Ecuador

Hamburg, den 15.2.66

Gestern, und auch heute Vormittag, war ich den ganzen Tag unterwegs bei Ämtern, der Reederei und so weiter. Gestern Abend ging ich deshalb um 18 Uhr ins Bett. Dafür bin ich heute früh um drei Uhr aufgewacht und konnte nicht mehr schlafen. So ging ich um halb fünf Uhr zum Bahnhof und habe meinen Koffer geholt. Ich hatte nur in der Unterwäsche geschlafen und mich mit dem Handtuch gewaschen. Ich hoffe, dass das Handtuch jetzt wieder trocken ist. Um sechs Uhr war ich am Hafen, um mich etwas umzusehen.

Jetzt drehe ich die Zeit wieder zurück. In Hamburg auf dem Bahnhof brach der Henkel meines Koffers ab. Das war bis jetzt das einzige Missgeschick, vielleicht bleibt es das einzige, ich hoffe es.

Die ältere Dame, welche bei mir im Zugabteil saß, war Amerikanerin, die in Berlin geboren war. Ich habe mich sehr gut mit ihr unterhalten, wir hatten über Marktwirtschaft gesprochen. Sie hat mich nach New Jersey eingeladen, falls ich einmal nach New York kommen sollte. Leider stieg sie in Frankfurt aus. Ich schlief dann so einigermaßen von halb zwei bis fünf Uhr.

Hamburg ist keine schöne Stadt, alt und noch nicht wieder ganz aufgebaut, und zum Teil mit Glaspalästen, ein 24-stöckiger von einer Versicherung und so weiter. Die Hamburger sind zum Teil recht freundlich, teils aber auch sehr kühl.

Auf der Reeperbahn werde ich nicht versumpfen, bereits morgen Mittag fahre ich mit dem Zug wieder weg, nach Genua. Von da aus geht es nach Ecuador mit einem Bananendampfer. Der Bananendampfer soll ein sehr modernes Schiff sein, ein Schnellläufer – damit die Bananen unterwegs nicht verfaulen. Die Temperatur im Maschinenraum soll relativ angenehm sein, 35-40oC gegenüber 60oC auf alten Dampfern.

Mit meiner Kamera, mit der ich in Stuttgart schon Schwierigkeiten hatte, habe ich wegen der Kälte hier wieder Schwierigkeiten.

In Hamburg wird der Schnee kaum von der Straße geräumt. Ich bin froh, wenn ich wieder in einer wärmeren Gegend bin, wahrscheinlich läuft dann auch meine Kamera wieder.

Eisenbahnfahrt von Hamburg nach Genua.

Genua, den 18.2.66

Wir vier neuen Besatzungsmitglieder der MS Perseus, die von Hamburg mit der Bahn nach Genua gefahren waren, um andere abzulösen, sind jetzt den 2. Tag in Genua. Morgen oder übermorgen geht es weg nach Ecuador. Das Schiff wird, entgegen der Annahme der Reederei, von den Italienern nachts nicht entladen. So sind wir länger in Genua, als beabsichtigt. Heute hatte ich das erste Mal Dienst an Bord. Natürlich kam der Chief, der Chefingenieur, hinzu als an der Maschine irgend etwas nicht ganz hasenrein war. Ich hatte es nicht bemerkt. Aber das ist ganz normal, weil ich die Maschinengeräusche ja noch gar nicht kennen kann.

Eigentlich hätte ich jetzt schon seit fünf Minuten wieder Dienst, aber ein Assistent muss 14 Stunden Wache schieben, weil er nicht rechtzeitig und betrunken zum Dienst erschienen war. In diesen 14 Stunden liegt meine Wachzeit auch drin. So kann ich nun schreiben. Ich kam gerade zurück, um meinen Dienst anzutreten, da sagte er, dass er bis morgen früh acht Uhr Dienst hat. Ich hätte von null bis vier Uhr Wache schieben sollen. Das ist natürlich prima.

Solange wir im Hafen sind gefällt mir die Seefahrt ganz gut. Im Hafen muss ich nur die Hilfsdiesel schmieren und die Temperatur der Kühlanlage konstanthalten. Ich bin froh, dass ich als Assi, Ingenieur-Assistent, fahren kann. Die Schmierer, was die andere Möglichkeit für mich gewesen wäre, um mit maximalem Verdienst zur See zu fahren, sehen nach ihrem Dienst wie die Schweine aus. Dies heißt aber nicht, dass ich nicht dreckig werde. Ich bin froh, wenn ich es schaffe, zum Landgang saubere Fingernägel zu haben. Heute Abend war ich wieder in Genua und habe die Ladenstraße besichtigt.

Genua, den 20.2.66

Hier ist es gar nicht kalt. Manchmal scheint die Sonne und manchmal regnet es. Wenn es regnet kann die Ladung nicht gelöscht werden, weil in den Laderaum kein Wasser darf, sonst würde die nächste Ladung bei der Hitze, wie sie am Äquator herrscht, zu faulen beginnen.

Ich war etwas spazieren, ich wollte einmal die Straßen bei Tag sehen, die ich sonst nur bei Nacht sah. Das Bild ist fast das gleiche nur ohne Lichtreklame und etwas weniger Menschen.

Heute Mittag ist die „Leonardo da Vinci“ ausgelaufen, ich wollte sie einmal filmen, aber ich kam gerade dazu wie sie auslief. Die „Leonardo da Vinci“ ist nach der “Michelangelo“ das größte italienische Passagierschiff. Ich wäre froh, wenn ich auch bald ausliefe, meine Zigaretten werden immer weniger, Geld habe ich auch keines mehr, weil ich es jemandem ausgeliehen und noch nicht zurückbekommen habe.

Den Fernlehrgang, den ich mitgenommen habe wegen dessen Gewicht wahrscheinlich der Henkel in Hamburg vom Koffer abgebrochen ist, habe ich noch nicht begonnen. Den studiere ich erst, wenn ich auf See bin. Im Hafen geht auf dem Schiff alles drunter und drüber, alles will an Land, ab und zu kommt einer zu spät an Bord, dann muss ein anderer seinen Dienst versehen oder es wurde zu viel getankt, dass der Kopf in Anbetracht der Übermenge an Alkohol nicht mehr mittun will.

Habe ich schon gesagt, dass es mir auf dem Schiff gefällt? Ich weiß nur noch nicht wie es wird, wenn wir auf See sind.

Ich glaube, ich lege mich noch einmal hin, um 20 Uhr habe ich Wache im Maschinenraum. Da muss ich ausgeschlafen sein, sonst schlafe ich bei der Wache und wenn ich vom Ingenieur erwischt werde ist der Teufel los.

Auf See, den 22.2.66

Gestern Mittag sind wir gegen viertel Vier Uhr ausgelaufen. Erst um sieben Uhr gab es Zigaretten, solange waren wir noch in der Dreimeilenzone, in der die unversteuerten Zigaretten noch verplombt bleiben müssen.

Das Leben an Bord ist ganz anders. Über Zeit und Entfernungen denkt man ganz anders. Heute Abend werden wir wahrscheinlich von der Straße von Gibraltar aus Afrika sehen. Jetzt sind wir in der Nähe der spanischen Küste. Ganz entfernt sieht man ein paar Erhöhungen. Auf dem Vorschiff ist jetzt alles ordentlich aufgeräumt, ich war vorher dort. Es war kein Mensch da nur auf der Kommandobrücke stand ein Offizier. Ringsum ist Wasser und ein mittlerer Wind. Meine Hosen und mein Pullover flatterten nur so im Wind. Sehr sonnig war es bis jetzt noch nicht. Heute Mittag um halb ein Uhr schien die Sonne etwas. Wenn ich in den Windschatten trete ist die Sonne schon ganz schön warm. Wie angenehm, wenn ich daran denke, dass vor einer Woche in Hamburg noch 20 cm hoch Schnee lag.

Ich will nun etwas von meinem Dienst erzählen. Seit viereinhalb Jahren habe ich nicht mehr richtig in der Werkstatt gearbeitet, nur im Labor habe ich ein bisschen an der Drehbank oder an der Bohrmaschine gearbeitet, dies war aber die reinste Bastelei.

Jetzt werde ich zwischen viertel und halb acht Uhr geweckt, dann ziehe ich Hose und Pullover an und frühstücke bei den Offizieren. Zum Frühstück gibt es Eier oder Pfannenkuchen, heute gebackene Leber jedoch ohne Apfelschnitze. Natürlich gibt es Brot, Marmelade, Käse oder Wurst. Kaffee trinke ich nach wie vor keinen. Die Kaffee-Experten sagen sowieso, er würde furchtbar schmecken. Er wird auf dem Schiff geröstet. Nach dem Frühstück geht es in die Arbeitsklamotten. Es ist auf dem Schiff das erste Mal, dass ich Blue Jeans anziehe. Von acht bis zwölf Uhr habe ich Wache. Die fängt an mit Temperaturen, Drücken und Ölständen abzulesen. Dann schmiere ich die Hilfsdiesel und die Hauptmaschine. Mit dem Hilfsdiesel wird elektrischer Strom erzeugt. Die Hauptmaschine, welche die Schiffsschraube dreht, ist ein Dieselmotor. Um 10 Uhr wird wieder geschmiert. In der Zwischenzeit werden die Drücke, Temperaturen Öl- und Wasserstände und was es sonst noch gibt reguliert. In der sonst noch verbleibenden Zeit, welches die meiste ist, werden Reparaturen und Überholungsarbeiten ausgeführt. Heute haben wir begonnen, einen Hilfsdiesel zu überholen. Das ist ein zwei Meter langer, und zwei Meter hoher Motor. Ein Automotor nimmt sich dagegen wie ein Spatz neben einem Kondor aus. Die Hauptmaschine wäre dann größer als ein Vogel Strauss. Um 12 Uhr gibt es Mittagessen mit Nachtisch. 

Offiziell geht es nachmittags um halb ein Uhr, wirklich aber erst um dreizehn Uhr bis um halb fünfzehn Uhr wieder in den Maschinenraum, jetzt nur noch für Instandsetzungsarbeiten. Um halb drei Uhr ist inoffizielle Tea-time. Um halb sechs Uhr muss ich Maschinenwache übernehmen, solange der, welcher zu dieser Zeit Maschinenwache hätte zu Abend isst. Dann gehe ich selbst zum Abendbrot. Zum Abendbrot gibt es wieder warm und Wurst– oder Käsebrot.

Von 20 bis 24Uhr gehe ich wieder Maschinenwache. Samstags und sonntags habe ich auch von acht bis zwölf Uhr und von zwanzig bis vierundzwanzig Uhr Maschinenwache. Ob da Instandsetzungsarbeiten gemacht werden weiß ich nicht. So ist jeder Tag fast gleich. Ich rauche bedeutend weniger, obwohl achtzehn Zigaretten nur fünfzig Pfennig kosten. In der Maschine (Maschinenraum) darf nicht geraucht werden, nur in der Werkstatt, und da soll man sich praktisch nicht aufhalten.

Mit mir ist noch ein weiteres neues Besatzungsmitglied an Bord gekommen. Er ist wie ich auch noch nicht zur See gefahren. Er war schon so seekrank, dass er im Gesicht ganz gelb war. Mir war es nur im Magen ab und zu mulmig, aber ich habe es einfach ignoriert und weiter gearbeitet. Das ist mein bestes Rezept. Auf dem Deck merke ich gar nichts. So wie das Schiff jetzt schaukelt, so wird es immer schaukeln. Ich hoffe, dass wir keinen Sturm bekommen, sonst erwischt es mich wahrscheinlich auch. Bei der Arbeit wird man so schmutzig, dass anschließendes Duschen unumgänglich ist. An den Händen habe ich Wasserblasen bekommen, ich bin ja keine Handarbeit mehr gewöhnt. Genau messen kann ich noch, wie ich es vor sechs Jahren in der Fabrik musste. Ich dachte das Gefühl dazu schon verloren zu haben. Alles in allem ich bin unendlich glücklich. Solange ich arbeite, muss ich mit den Gedanken ganz bei der Arbeit sein. Es ist doch alles völlig neu. Dann kommen auch neue Ausdrücke, wie Pütz, das ist ein Eimer, oder Twist, das ist Putzwolle, hinzu, die ich erst kennen lernen muss. Morgen werde ich wahrscheinlich Waschtag haben.

Auf See, den 24.2.66

Heute schreibe ich nur ein wenig, ich bin ziemlich müde. Eigentlich wollte ich ja jeden Tag schreiben, aber das geht doch nicht so ganz wie ich mir das vorgestellt habe. Einmal muss ich meinen Einstand  bezahlen, und dann muss ich anstandshalber dort mittrinken, um nicht als Außenseiter zu erscheinen. Dann wird hier über die Seefahrt diskutiert. Das muss ich natürlich wissen, damit ich im nächsten Hafen oder bei der nächsten Fahrt optimal disponieren kann. Zum Waschtag bin ich nicht gekommen, da es auf dem Schiff kein Waschpulver gibt. Da ist der Stuart nicht richtig auf Zack. Heute habe ich den Abi-Fernkurs begonnen. Das ist eine gute Methode, um sich begründet von den Saufkumpanen fern zu halten. Bei uns ist das Wetter herrlich. Über Mittag liegen wir auf Deck und sonnen uns. Gestern Abend 11 Uhr sind wir durch die Meerenge von Gibraltar gefahren. Auf der afrikanischen Seite liegt eine Stadt, an der wir näher vorbei fuhren. Es hieß, dass dies Tétuan sei, aber wahrscheinlich war es Ceuta. Jedenfalls waren die Lichter Zeichen, dass es dort auch noch Menschen gab und dass wir nicht die einzigen sind. Es war ein wunderschöner Anblick. Später zog zwischen uns und der Stadt langsam ein Schiff vorüber.

Abends gehe ich manchmal an Deck und schaue auf das Meer oder an den Himmel. Der Himmel ist heute Abend das erste Mal nicht so klar wie sonst.

Auf See, den 25.2.66.

Bis jetzt habe ich sehr viel vom Schiff und vom Wetter geschrieben. Das Schiff ist eben ganz neu für mich und das bewegt mich natürlich, und das Wetter ist einfach wichtig, weil ich ihm auf dem Meer sehr viel mehr ausgesetzt bin als in einem feststehenden Haus. Heute Vormittag wurden die Bullaugen verschlossen, wegen des hohen Wellengangs. So wie heute hat das Schiff zuvor noch nicht gestampft. Aber ich spüre es gar nicht mehr, ich falle eben nur von einer Seite auf die andere, als ob ich blau wäre.

Auf See, den 26.2.66

Ich werde jetzt ins Bett gehen, heute ist Samstag, und es kann gut sein, dass in der Mannschafts-Bar heute Nacht noch etwas los ist. Da kann ich nicht wieder kneifen, wie gestern Abend, als wir beim 4. Ing. auf Whisky mit Cola eingeladen waren.

Auf See, den 27.2.66

Ich komme jetzt von der HD-Party, von der Hilfsdiesel-Party. Ich habe schon geschrieben, dass wir den Hilfsdiesel überholt haben. Das musste jetzt gefeiert werden. Wir waren in der Offiziersmesse. Wir, das waren der leitende Ing., seine Frau, der 3.Offizier, der 3. Ing., der 4. Ing. und wir beiden Assis. Der 2. Ing. und der andere Assi hatten Wache. Ich muss sagen, ich bekomme immer mehr Lust zur Seefahrt bzw. die ganzen Meere abzufahren. Es geht jetzt gegen drei Uhr und um acht Uhr muss ich wieder auf Wache gehen.

Auf See, den 2.3.66

Heute habe ich mich furchtbar aufgeregt. Eigentlich passiert mir das nicht so schnell. Aber diesmal legte ich ein Temperament an den Tag, das ich mich selbst kaum erkannte. Unserem Messe-Steward lieh ich in Genua 60.-DM. Er machte bis jetzt keine Anzeichen, sie mir zurückzugeben. Heute sprach ich ihn direkt an, sonst nur indirekt. Außerdem nimmt er sich einige Stücke heraus, welche ich mir zuhause nicht herausnehmen könnte. Es kam dann zu einem heftigen Wortwechsel. Ich habe ausgeteilt, dass er nichts mehr sagen konnte, obwohl er eine Berliner Großschnauze  im wahrsten Sinne des Wortes ist. Am meisten ärgert mich, dass kaum Aussicht besteht, dass ich das Geld wiederbekomme. Heute habe ich mir einen leichten Sonnenbrand zugezogen. Auf dem Meer ist es gar nicht heiß, weil ständig ein leichter Wind weht. Das Wasser hatte heute zum Beispiel 24oC und die Lufttemperatur war auch 24oC. Allerdings in der Maschine waren es heute schon 35oC. Im Panamakanal sollen es in der Maschine 45oC werden. Da fehlt eben der kühlende Wind. Ja so eine Seereise ist selbst bei Nacht etwas besonderes. Die Sterne sind ganz klar. Den großen Wagen sieht man selbst hier. Wir müssen jetzt in Äquatornähe sein. Eine Äquatortaufe gibt es wahrscheinlich nicht, weil zu wenig Täuflinge da sind. Morgen wird die Maschine außer Betrieb gesetzt, dann treibt das Schiff. Wir werden dann die Kolben des Hauptmotors wechseln. Ich bin gespannt. Das muss nach dem Wechseln der Schiffsschraube auf See das zweitaufregendste Ereignis sein. Morgen muss ich auf dem Damm sein, wenn Kolben gewechselt werden. Ich habe heute auch wieder länger Zeit zum Schlafen, weil die Uhr wieder eine Stunde zurück gestellt wurde. Bei uns wird es jetzt 2 Uhr sein, in Deutschland 23 Uhr.

Auf See, den 4.3.66

Vor kurzem dachte ich noch, dass ich noch einige Zeit zur See fahren würde, aber heute denke ich ganz anders. Vielleicht ist das aber nur vorrübergehend. Die anderen prophezeiten mir, dass ich nach zwei Wochen die Nase voll hätte vom ewigen Wasser. Noch gestern sah ich gegen 23 Uhr zum Bullauge hinaus. Es war herrlich. Zuerst sah ich nur auf das Wasser. Die Wellen versuchten sich zu haschen. Hatte eine Welle die andere erreicht, so lachte sie hämisch, dass die Krone der Welle schneeweiß wurde, und gleich wieder in der nächtlichen Dunkelheit verschwand. Die Wellen tun, als ob sie Katzen wären die ihr Opfer mit einem Schlag fangen um sie gleich darauf wieder laufen zu lassen. Sie sind wie Schlangen, die über den Boden zucken und da und dort aufblitzen, wenn das Mondlicht von der Welle gebrochen in das Auge fällt. Ich sah zum Himmel. Wie Wattebäusche waren die weißen Wolken an den nächtlichen Himmel gepustet. Bald sah ich einen Hasen mit zu kurzen Ohren, bald formten sich die Wolken zu einem Seelöwen. Dort hing ein Seestern, als sei er riesengroß aus dem Meer gekommen, um mit einem Arm einen Stern am Himmel zu angeln. Ein Stern blinkte mit eiskaltem Blau aus der nächtlich warmen Schwärze mir entgegen, als sei er der alte Weise, den anderen Sternen fern, über allem stehend, unerreichbar. Es war wunderbar, für nur wenige Minuten zwischen der Arbeit in einer Zigarettenpause. Ich hätte es nicht gesehen, wenn ich nicht die Arbeit, die mich ganz an sich reißt und meine Aufmerksamkeit auf das technisch, mathematisch ausgezirkelte Menschenwerk „Schiff“ konzentriert, für eine Pause verlassen hätte. All das Schöne vergeht, wandelt sich und kommt ganz anders, neu und schön wieder. Dazwischen ist das Leben mit dem rohen, derben Seemannsgeschwätz, das so einseitig und oft tierischer Art ist. Im Hafen am Ziel, suche ich neue Menschen. Doch die Zeit ist zu kurz und zu hastig, um das zu finden, was ich suche. Mädchen die ganz eindeutig zeigen, was sie geben und was sie dafür wollen, gibt es Dutzende. Doch was geben sie? Ein kurzer Rausch. Alles ist vorbei. Die Ernüchterung bekommt gleich wieder die Oberhand. Ein seelischer Betrug, sonst nichts. Und wieder sucht man weiter und ertränkt seine Sehnsucht im Alkohol und das Schiff fährt wieder ab, zum nächsten Hafen, und alles beginnt von neuem. Nein das ist ein ewiges Suchen und nicht finden. Das fange ich gar nicht erst an. Ich will noch Asien sehen und dann wird es aus sein. Dann werden meine Fernegelüste befriedigt sein. Die Seefahrerei ist nur eine Überganszeit für das nächste Ziel, das ich erreichen will. Es ist jetzt kurz vor 3 Uhr und um halb acht Uhr werde ich wieder geweckt.

Auf See, den 5.3.66

Zunächst will ich meine vorhergehenden Berichte geografisch berichtigen. Über den Äquator sind wir natürlich noch nicht, das wird in den nächsten Tagen kommen, nachdem wir durch den Panamakanal sind, und dann weiter südlich fahren.

Noch eine Berichtigung, wir gehen der Zeit in Europa nicht voraus, wir hängen ihr hinterher.

Über den Atlantik sind wir nun schon. Um neun Uhr sahen wir die erste Insel, die zu den kleinen Antillen gehören muss.

Die Schmierer, die heute Nachmittag nicht arbeiten, sind irgendwie froher, überhaupt alle, nachdem die ersten Inseln vorbeigezogen sind. Ich sehe wieder Vögel und Schiffe. Wir nähern uns dem Festland. Ich bin auch nicht mehr so niedergeschlagen. Trotzdem vertrete ich die Ansicht von gestern über die Seefahrt heute immer noch.

Abends wurde ich in Kenntnis gesetzt, dass ich am morgigen Sonntag den Gottesdienst zu halten habe. Ich fragte nach dem Warum. Die Antwort war, dass die Assis immer den Sonntagsgottesdienst zu halten hätten. Darauf erwiderte ich: „Aber letzten Sonntag war doch auch keiner“. Die Ausrede war, dass nur, wenn das Schiff sich auf See befindet Got-tesdienste auf dem Schiff abgehalten werden. Dann sagte ich, das ich den nächsten halten werde, wenn ich gesehen hätte, wie das so läuft. Darauf hieß es, dass ich den morgigen Gottesdienst zu machen habe. Das Ungeschickte war, dass mich der 2. Ing. heute berechtigter Weise zusammengestaucht hatte, nun konnte ich mich rehabilitieren. So erkundigte ich mich, wie das so läuft. Die Antwort war, dass ich aus der Schiffsbibel, die in der Offiziersmesse steht, lesen solle und dass ich mit der Schiffsglocke den Sonntag einläuten müsse. Aus den Widersprüchen und der Tatsache, dass die Schiffsglocke nur für den Feueralarm benütz werden darf, schloss ich, dass ich aufs Eis geführt wurde. Ich erkundigte mich auch noch bei anderen über den Schiffsgottesdienst und da wurde mir empfohlen, über den Schiffskoch zu meckern. Jetzt läutete nicht nur die Schiffsglocke, jetzt läuteten bei mir alle Glocken. Mit dem Schiffskoch legt man sich doch nicht an, sonst bekommt man kein anständiges Essen. Er fragt nämlich immer den Steward, für wen der Teller sei, so dass er immer ganz genau im Bilde ist, für wenn er schöpft.

Auf See, Sonntag den 6.3.66

Heute früh weckte mich der 3. Ing., ich müsse mit der Schiffsglocke den Sonntag einläuten. Ich wusch mich rasch und zog mich an. In der Zwischenzeit brachte er auch die Schiffsglocke. Nun tat ich so ungeschickt, dass der 2. Steward die Schiffsglocke läutete. Wir gingen zusammen an den Kammern der Unteroffiziere, der Passagiere und der Mannschaft vorbei und „läuteten den Sonntag ein“. Auf dem Deck war fast die ganze Mannschaft und zwei Ing. versammelt. Nun musste ich eine Ansprache halten. Sie drückten mir die Schiffsbibel in die Hand. Was tun sprach Zeus? Alles grinste. Ernst durfte es nicht sein, aber die Richtung sollte es haben. Ich stand da wie der Ochse vor der Apotheke und mein Hirn arbeitete fieberhaft. Dann sagten sie, ich solle etwas aus der Bibel vorlesen. Ich schlug sie auf und blätterte sie durch. Die Bergpredigt flog vorbei. Schon zu spät. Ich hielt bei Jonas 2,3 die Bibel aufgeschlagen. Dann „las“ ich: „Jesus sprach zu den Korinther, saufet wie die Bürstenbinder, saufet bis ihr fallet nieder, stehet auf und saufet wieder.“ Dies war ein Trinkspruch, von dem ich dachte, dass er ankommt. Sie wollten mehr. So berief ich mich auf Martin Luther: “Aus einem traurigen Arsch kann kein fröhlicher Furz kommen.“ Dann fragte ich sie, ob ich ihnen das Vaterunser auf lateinisch vorsingen solle. Sie stimmten ein christliches Loblied an. Da sammelte einer mit einem Hut, einer Melone, weiß Gott wo er die hergebracht hatte. Es wurden Streichhölzer und Zigaretten hineingeworfen und wieder herausgeholt. Dann standen sie auf und zerstreuten sich. Ich dachte „Deo grazias“- „Gott sei Dank“.

Heute Mittag ging es ähnlich verrückt weiter. Der Funker und der 4. Ing. kamen angeheitert. Der 3. Ing. war mehr als angeheitert. Es waren die reinsten Wasserschlachten im Gange. Die Teppiche in den Kammern sind immer noch nass. Ich habe mindestens 3 Liter Wasser abbekommen.

Ich hatte noch eine Flasche weißen Cinzano zum mischen mit Zitronenlimonade. Am Nachmittag nahm ich einen Schluck pur. Dann noch einen und immer noch einen. Langsam wurde ich innerlich ruhig. Aber mein Gehirn musste auch immer ruhiger geworden sein. Ich hatte doch tatsächlich in einer Stunde ½ Liter Cinzano getrunken. Ich war recht heiter. Und dann hatte ich Wache. Ich war noch ganz bei Pappe. Eigentlich musste ich nur Wache gehen, aber dann sagte ich mir, damit ich in Bezug auf Bewegungen mit mir selbst keine Schwierigkeiten bekomme usw., arbeite ich mehr als nötig und so wechselte ich Düsen an einem Hilfsdiesel. Leider war die Idee ein Trugschluss. Ich hatte nicht einkalkuliert, dass die Hitze ja erst die volle Wirkung brachte. Ich sprach sehr viel französisch. Und musste sehr viele Pausen machen. Aber ich war dann wieder beruhigt. Ja später leerte mir in meinem Rausch einer einen Eimer Öl über den Kopf von oben anscheinend sogar auch noch Wasser. Das ist Seemannsleben, rau aber herzlich; und jetzt kommt die herzliche Seite. Das Öl biss fürchterlich in den Augen. So wusch ich mir die Haare und das Gesicht wenigstens. Und derselbe, der das Öl über mich goss und lachte, half mir die Haare waschen und holte ein Spezialreinigungs-mittel. Das ist ein krasses Beispiel oder vielleicht auch nicht allzu sehr. Im Grund sind es doch gute Kerle, sie wollen eben ihren Spaß und der ist oft etwas derb.

Der andere Assi, mit dem ich Wache gehe, ist ein feiner Kerl. Die Kameradschaft ist ganz gut an Bord.

Auf See, Dienstag den 8.3.66

Gestern waren wir in Curaҫao. Ich war nicht an Land, genau gesagt, war ich illegal 20 Minuten vom Dampfer runter. Ich hatte die ganze Zeit, solange wir bunkerten (tankten), Wache. Curaҫao ist eine holländische Kolonie und dementsprechend sauber. Die Häuser, die ich in der kurzen Zeit sah, waren wie kleine Villen. Ein idealer Rentnersitz dachte ich. Morgen oder übermorgen kommen wir in den Panamakanal.

Auf See, Mittwoch den 9.3.66

Nun will ich einmal die Besatzung aufzählen. An der Spitze mit 4 Litzen am Ärmel steht natürlich der Kapitän. Dann folgt unser Chief oder genauer gesagt der Chef-Ingenieur mit dreieinhalb Litzen. Mit zwei Litzen folgen der zweite Offizier und der zweite Ing. und der dritte Offizier und der dritte Ing. haben eine Litze. Dann ist noch ein Funkoffizier an Bord. Er funkt nicht nur, er verwaltet auch die Kasse. Ing.-Assi(stenten) sind wir fünf, wovon einer als 4. Ing. fährt. Dann gibt es noch einen Elektriker und einen E-Assi. Das waren die Offiziersränge. Nun die Mannschaftsränge. Zum Maschinenpersonal gehören zwei Schmierer, sie müssen eine Mechanikerausbildung oder eine gleichwertige Ausbildung haben. Dann zwei ungelernte Reiniger. Denen steht der Storekeeper vor. Der Deckmannschaft steht der Bootsmann vor. Unter ihm stehen zwei Zimmerleute, zwei Matrosen, 1 Lichtmatrose und zwei Jungen. Unter dem Koch stehen ein Bäcker und zwei Küchenjungen. Dann gibt es noch drei Stewards, die für den Salon und die Messe zuständig sind. Die Reiniger, Deckjungen und Küchenjungen, welche die einfachsten Arbeiten ausführen, sind Schwarze. Außer der Schiffsbesatzung fahren noch ein paar Passagiere mit.

Seit Sonntag war ich immer noch nicht richtig auf Zack.

Gestern ging um 24 Uhr die Wache zu Ende. 10 Minuten später waren wir auf Whisky mit Cola beim vierten Ing. Um 3 Uhr 40 war ich dann in der Koje. Gegen 7 Uhr kam jemand und weckte mich mit drei Briefen. Er fügte dann gleich hinzu: „Aufstehen und in die Maschine.“ Ich fragte: „Sind Sie der Zweite?“ „Ja“, kam es an mein verschlafenes Ohr. „Dann habe ich Manöverwache“, erwiderte ich. Das heißt soviel wie „es brennt“. Also keine Zeit für Briefe lesen. Ich öffnete die Briefe trotzdem und überflog sie, steckte sie wieder in ihre Kuverts und diese in das Hemd. Einen Brief las ich auf der Toilette, die anderen konnte ich nicht einmal beim Frühstück lesen, ich las sie später bei der Wache.

Wir fahren durch den Panamakanal und haben drei Mann verschärfte Wache.

Die Landschaft stellt sich in herrlichen Bildern dar. Fast paradiesischer Urwald. Dann wechselt die Aussicht mit der technisch interessanten Schleusen- und Kanalanlage. Seit heute Mittag drei Uhr liegen wir hinter dem Kanal und machen eine Fahrtpause, weil wir noch Zeit haben. Es kommen ständig Schiffe, zum Tel liegen sie auch vor Anker wie wir. Die Britania, die Yacht der Königin von England, liegt ein paar Meilen von uns entfernt, wir sind an ihr vorbeigefahren. Schon den ganzen Nachmittag habe ich ein herrliches Bild um mich. Vor dem Schiff der endlose Pazifik, hinter mir die Brücke, welche die Straße von Alaska nach Feuerland über den Kanal fortführt, Palmen, in der Ferne eine schneeweiße Stadt und herrliches bergiges grünes Land. Es ist einmalig schön und meine Kamera lässt mich im Stich. Sofern es geht, will ich sie heute Abend reparieren.

Auf dem Schiff habe ich erst zwei oder drei Bananen gegessen.

In der Zwischenzeit hatte ich wieder Wache und habe nun meine Kamera durchgemessen. So etwas kostet zwei Bier. Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass ich sie sobald als möglich verkaufe, und dafür eine japanische kaufen werde. Ich könnte mich ärgern, welche Aufnahmen ich hätte heute Nachmittag machen können.

Mein Kammerkollege ist ein großzügiger Österreicher. Er ist so großzügig, dass ich in Genua zuerst die Kammer gekehrt und aufgeräumt habe.

12.3.66

Am dreizehnten werden wir in Guayaquil sein. Das ist das Ziel meiner ersten Seereise. Langsam wird es hier säuisch, ich mache hier einiges mit. Da ist eine Tasse auf den Kopf schlagen noch das mildeste. Geblutet habe ich nicht. Ich spüre es nur noch. Einen amerikanischen Tropenschnitt habe ich auch. Das geschieht so im Zuge der inoffiziellen Äquatortaufe, eine offizielle fand nicht statt. Ich glaube, sie kann nicht viel anders sein. Ich bin gespannt, was morgen im Hafen los ist. Wenn das was erzählt wird alles stimmt und ich glaube es auch, denn was ich bis jetzt sah hätte ich kaum für möglich gehalten, dann wird morgen das halbe Hafenviertel auf dem Kopf stehen.

14.3.66

Nun ist der Hafenrummel vorbei. Jahrmarkt ist gar kein Ausdruck, Ameisenhaufen trifft am besten zu. Es sieht so aus, als ob alles durcheinander ginge und trotzdem ist alles ganz gezielt und bestimmt, was getan wird. Die Ameisen wissen ja auch ganz genau, was sie tun müssen. Es war ein dauerndes „Changen“ (Tauschen) Rufen und Arbeiten. Nur der Frisör war zwei Tage dauernd an Bord ruhig beschäftigt, ohne das übliche Hallo. Jetzt habe ich von vier bis acht Uhr und von sechzehn bis zwanzig Uhr Wache.

15.3.66

Jetzt sind wir schon wieder einen Tag weg von Guayaquil in Richtung Europa. Nun will ich von der letzten Zeit schreiben.

Bis zum 5.März fiel meine Stimmung immer mehr, dass ich sogar über den Durst trank. Ich glaube, dass ich bei den anderen jetzt anerkannt bin und nicht mehr der absolute Moses, der Grünschnabel. Vielleicht hätten sie mich schon länger akzeptiert, wenn ich mit ihnen gesauigelt hätte. Aber das liegt mir nun absolut nicht. So musste ich eben alles mit Mittrinken und Saufen schaffen. Wie gesagt, zur Zeit geht es mir gut an Bord.

Nun will ich von dem Zeitpunkt ab erzählen, als ich das erste Mal schmutziges Meerwasser sah.

Es war morgens, ich wurde zur Wache geweckt. Ich sah zum Bullauge hinaus und stellte fest, dass das Wasser gar nicht mehr die grünblaue Farbe hatte, aber noch gab es ein wenig weißen Schaum auf den Wellen. Das Wasser hatte eine lehmige Farbe. Wir waren also unmittelbar in der Mündung des Rio Guayalis. Es war Meer- und Süßwasser. Guayaquil liegt nicht am Meer, sondern am Rio Guayalis, wie London an der Themse. Wie wir den Fluss hochfuhren, habe ich kaum gesehen, denn ich hatte wieder Wache. Fluss ist eigentlich untertrieben. Anfangs sah ich nur auf der einen Seite des Horizonts ganz entfernt Land. Wir fuhren schnell den Strom hinauf und langsam konnte ich Wälder sehen. Wir kamen auch immer näher dem Ufer entlang, so dass ich sogar eine Hütte erkennen konnte. Nun ging ich auf die andere Seite des Schiffes und wollte sehen, was es dort gab. Ich war überrascht, dort stieg Qualm zwischen den Baumwipfeln hoch. Dann sah ich auch eine Hütte, dort musste das Feuer sein. Die Hütte war weiß und schwarz und grau zugleich, wie Asche, wenn das Feuer niedergebrannt ist. Verwahrlost ist kein Ausdruck für den Zustand dieser Behausung, verfallen ist das richtige Wort für diesen Anblick. Ja, und nun sah ich auch die Menschen, die dort hausten, Indianer oder genauer gesagt Indios. Sie hausen in oder vor diesen Hütten. Später, flussaufwärts sah ich noch mehr. Wahrscheinlich waren sie beim Kochen, so genau konnte ich es vom Schiff aus nicht sehen.

Ich war überrascht so nahe an „Wilden“ vorbei zu fahren. Ich wäre am liebsten mit einer Tüte Salz in einem Boot ans Ufer gefahren. Das Salz hätte ich ihnen als Gastgeschenk überreicht. Und dann wäre ich am liebsten dort geblieben  und hätte zugesehen, was sie den ganzen Tag tun, kochen, ob sie Haustiere haben, wie sie mit Kindern umgehen und so weiter. Vielleicht hätte ich von ihnen auch etwas bekommen, eine tönerne Schale oder ein Krug

Räuchergefäß aus Ton

oder ein Werkzeug.

Vogelkopf aus Ton 

Leider war ich auf dem Schiff!

Das Schiff zog unentwegt den Fluss hinauf. Ich hatte wieder Manöverwache, wie immer, wenn es etwas zu sehen gibt. Langsam kamen Wasserpflanzen mit dem Fluss uns entgegen, wie vollgepackte kleine führerlose Pflanzenboote. Manchmal sah ich eine oder mehrere Blüten wie Herbstzeitlose, jedoch nicht zartrosa sondern zarthellblau auf den schwimmenden „Pflanzenbooten“.

Es waren Scharen von zusammenhängenden Wasserhyazinthen. Der botanische Namen ist Eichhornia, wahrscheinlich nach einem Herrn Eichhorn, der sie irgendwann einmal katalogisiert hat. Ich überlegte mir, wie ich eine angeln könnte, aber ich fand keine Lösung, wenigstens keine gangbare. Inzwischen war es nun nachmittags halb zwei Uhr geworden. Ich sah in Fahrtrichtung sich etwas helles aus dem Wald herausheben, Guayaquil. Langsam kamen hölzerne Lagerhäuser auf mich zu, so lang wie ein Wohnblock und Silos, uralte Schiffe, die verrostet und verkommen waren und Häuser, die bewohnt sein musste. Dies war der Anfang von Guayaquil, die Stadt, welche seit dem 16. Februar mein Ziel war. Es war Sonntag, der dreizehnte März. Du darfst dir nicht vorstellen, dass du in einer Stadt bist wie bei uns, nein, wie vielleicht in Südfrankreich. Am Sonntagnachmittag waschen am Ufer auf den Steinen in dem schönen lehmigen Wasser Leute ihre Wäsche. So oder ähnlich ging es weiter, alte Häuser aus Holz oder Stein oder beidem zugleich. Endlich kamen wir auch zum Zentrum der Stadt. Wir blieben auf Reede, das heißt, das wir im Fluss ankerten. Guayaquil liegt nur auf der einen Seite des Flusses. Auf der anderen Seite ist Wald, Steppe oder so etwas ähnliches, Wiesen kann ich es nicht nennen. Es ist leicht hügelig mit einer noch höheren Hinterlandschaft. Teilweise wachsen Palmen wild in der Landschaft, zum Teil Laubbäume, ähnlich denen, die wir kennen. Weiter flussaufwärts ist Industrie, aber unten ist herrliche Wildnis. Guayaquil liegt eben und ein Teil zieht sich an einem Berg hoch wie Genua oder vielleicht im Tessin. Aus den Dächer ragen zwei schneeweiße gotische Türme, die Türme der Kathedrale von Guayaquil. Außer uns lag auf dem Fluss noch ein Kriegsschiff, ein Kühlschiff von unserer Reederei und ein Belgier.

Nachmittags um halbdrei Uhr war Landgang. Wir mussten das Agentenboot abwarten, wegen Pässe, Zoll und so weiter. Wir konnten noch nicht von unserem Schiff herunter, da kam auch schon eine Barkasse mit Indios, Spaniern und Mischlingen. Sofort wurde die Gangway gesperrt, sonst wären die etwa 40 Passagiere der Barkasse bei uns an Bord gewesen. Nur der über Funk bestellte Friseur durfte hoch. Aber irgendwie kamen doch einige durch und Südamerika hatte uns in den Händen. „Change, change, Sucre, Sucre change“ ging es los. Wir wechselten unsere Dollars in Sucre. Wenn sich niemand ausgekannt hätte, wir hätten 20% „Wechselgebühren“ bezahlt, über dem Preis, der sowieso über dem Bankpreis war. Während dem Changen, von tauschen oder gar wechseln wurde nicht geredet, wurde ganz offen immer wieder gefragt: „You have cigaretts, whisky. So ging es immer wieder: „Cigarettes, whisky, change...“, bis wir an Land konnten. Mit der Schiffssirene wurde die Barkasse gerufen, damit wir weg konnten von unserem Dampfer. (Dampfer ist jetzt ein herablassender Ausdruck für Motorschiff, ein wirkliches modernes Dampfschiff heißt Steamer.) Einiger Kameraden waren schon öfters hier und kannten sich aus, wie schon erwähnt. Endlich ging es mit dem Taxi in die berühmte Anita-Bar. Taxi ist jedes Taxi und jedes Auto, welches Zeit hat und leer ist.

Zuerst fuhren wir durch die City, durch Straßen, in deren Mitte Palmen gepflanzt sind, vorbei an Monumentalgebäuden, unter anderem von der Lufthansa und der Air France, an kleineren und größeren Denkmalen vorbei zur Vorstadt. Der Übergang von der City zur Vorstadt ist ziemlich kurz und drastisch. Wenn die Staatsgebäude vorbei sind kommen noch ein paar Häuser von reichen Leuten, aber gleich danach kommen die Häuser der Normalen, bei uns würde man sagen „mitteleuropäische Normalverbraucher“. Das sind unverputzte Fachwerkhäuser ohne Fenster zum Teil gemauert, zum Teil, ich weiß nicht wie, mit Bambusmatten verkleidet. Von Eseln gezogene Karren, Pinscher und Spitzer beleben das Straßenbild. Es ist es sehr ruhig, denn es ist Mittagszeit. Pan schläft. Selbst die Autos glauben nicht hupen zu dürfen. Dafür holen sie es am Rest des Tages über nach. Ein Ladenschlussgesetz gibt es selbst am Sonntagnachmittag nicht. Vereinzelt sind Läden geöffnet oder Händler unterwegs. Plötzlich ertönt ein Ruf voll Freude: „Die Anita-Bar“. In unserem Taxi wird es wieder sehr lebendig. Unser Taxi war ein Kombi. Neben dem Fahrer fuhren zwei Fahrgäste und hinten im Font waren wir zu fünft und ein weiterer lag ganz hinten.

Die Anita-Bar lag eingezäunt in einem schönen von Bäumen und Sträuchern bewachsenen südländischen Garten. Der Weg vom Gartentor ist schmal und schattig. Von der einen Seite ist er von einer Mauer flankiert, von der anderen mit herrlichen  blühenden Bäumen, deren Blüten ähnlich aussahen wie die eines Amaryllis und rot wie die Blüten der Feuerbohnen in der Sonne leuchteten. Mit ihren langen zarten Pollenträgern erschienen mir die Blüten sehr einladend für Insekten.

Die Türe zur Bar wurde aufgerissen und die ersten rannten los, als sie ein Mädchen sahen, das sie vom letzten Mal kannten. Obwohl es über einen Monat her war und dort viele Seeleute ein und aus gehen, kannten die Mädchen sie wieder und das Wiedersehen war auf beiden Seiten gleich herzlich und „mündlich“. Die Bar ist etwa so groß wie unser Wohnzimmer. Sie ist mit ein paar Tischen und Stühlen, einer Theke mit Barhockern und einer Musikbox, aus der deutsche, amerikanische und Weltschlager tönen, möbliert. In der Bar war es angenehm kühl. Sie hatte nur ein Fenster und eine zweite offene Tür, die in ein Atrium – einen Innenhof - führte. Das Atrium war sehr hübsch. In der Mitte stand wieder der gleiche blühende Baum, wie vor der Bar. Später lernte ich, dass dieser Baum, dessen Blüte mich so faszinierte, Hibiskus heißt. Das Atrium war ringsum mit hohen, südländisch, schönen farbigen Mauern begrenzt. Eine Wand war zitronengelb, eine andere rosa und die dritte eine Mosaikwand mit großen, bunten, glasierten Steinen. Überall wuchsen Kakteen oder Palmen oder sonstige Blattpflanzen. Auf einer Galerie standen Sansevierien in Reih und Glied.

Langsam verteilten sich die Herren unter die Damen oder umgekehrt. Das Ganze ist natürlich eine Bar mit Animiermädchen. Die Mädchen hatten fast alle eines gemeinsam, dass ihnen ein oder mehrere Zähne fehlten. Ihr Temperament war aber hinreißend. Es wurde viel Bier und Kuba libro getrunken. Kuba libro ist Cola mit Rum und einer Zitrone, das wir schon bei der HD-Party tranken. Da ich kein Spanisch kann, unterhielt ich mich deutsch, englisch, italienisch, französisch und vor allem mit Händen und Füßen.

Einem Mädchen fehlte kein Zahn sichtbar, mit ihr unterhielt ich mich. Es hatte ein dünnes weißes Kleidchen an mit Blümchenmuster und erzählte mir von irgend einem Ärger, den sie mit jemandem hatte. Ich hörte es an ihrer Stimme und sah es an ihren Tränen, die ihr aus den Augen quollen. Bei so viel Emotion half nur noch gefühlvoller schwäbischer Trost, der seine Wirkung auch nicht verfehlte.

Von Zeit zu Zeit verschwand immer wieder ein Pärchen über die Außentreppe an der Atriumwand im oberen Stock über der Bar.

Um 20 Uhr hatte ich wieder Wache. Inzwischen hatten auch schon zwei Kameraden unliebsame Bekanntschaft mit der Hitze, die das Blut aufrührt und in Wallung bringt, gemacht. Einer bezahlte im Boot hundert, statt zehn Sucre. Einem anderen wurde der Reisepass mit 50$ geklaut. Der Pass wurde inzwischen ohne Geld auf dem Schiff gefunden. Kein Versehen, weil er erst ein Tag später auf dem Tisch lag.

Montag Morgen hatte ich wieder Wache. Im Hafen ist aber die Wache nicht so streng wie auf See. So hatte ich immer wieder Gelegenheit für kurze Zeit an Deck zu gehen oder aus dem Bullauge zu sehen. Seit 4 Uhr war das Beladen des Schiffes auf vollen Touren im Gange. Auf Deck fand der reinste Jahrmarkt statt. Der Friseur und alle, die am Sonntag abgewiesen wurden waren wieder da. Das „Change“ nicht mehr so groß in Bezug auf Dollar in Sucre, dafür wurde mehr Ware „gechancet“, Chamisso de Nylon, und ein Zupfen am Hemd, cigarettes, whisky, pullover, soap gegen Masken, Pfeil und Bogen, Köcher, Holzmesser, wie vielleicht vor Millionen Jahren, mit denen konnten die Masken nicht geschnitzt worden sein – Kitsch in Potenz. Teppiche und Tücher, Ananas, Mangofrüchte, Waren aus Schlangenleder und so weiter wurden angeboten. Kleine Bübchen wollten spiegelglänzende Schuhe nochmals putzen. Sämtliche Türen waren verschlossen nur eine nicht und da saß ein Matrose Wache, damit niemand herein kommen konnte. Trotzdem war ständig jemand durchgekommen. Selbst deutsche Matrosen lieben 1$ um das Auge ein wenig zu schließen. Die Händler ließen mich nicht mehr los, wenn ich ihre Ware nur eines Blickes würdigte. Sie rannten hinterher, bis ich wieder hinter der Tür mit dem Matrosen war. Am besten gefielen mir die Indios. Sie sind nicht so aufdringlich wie die spanischen Abkömmlinge. Sie hatten ihre Ware auf der Ladeluke ausgelegt und zeigten ihre Stoffe mit einem Ausbreiten und Wühlen und „different!“, alle seien verschieden. Die Indianer hatten große Filzhüte, ähnlich unserem Pfadfinderhut, darunter quollen vorn pechschwarze Haare hervor und hinten ein Zopf bis zu den Schulterblättern. Obwohl die meisten das gekauft hatten, was sie wollten, suchten die hellwachen Augen immer nach einem neuen Kunden. Vielleicht ließ sich noch einer übergestikulieren, überreden konnten sie nicht, da sie nur Spanisch sprachen und die Hafensprache ist nun eben einmal Englisch. Der dunkle Poncho wurde trotz der Hitze als Aushängeschild für echte indianische Handarbeit getragen. Er ließ nur ab und zu ein schmutziges, weißes mit Verzierungen besticktes Hemd von den Augen erhaschen. Natürlich wurde eine Armbanduhr mit Metallarmband getragen. Nicht weil man wissen musste, wann das nächste Schiff kommt, nein, weil man sich mit den gleichen Statussymbolen schmückte. Wenn einmal die Aussicht bestand, etwas zu verkaufen, sah ich beim Anlächeln der Kunden die kleinen, kurzen, rotgefleckten Zähne. Die Indios übertreiben nur mit den Warenpreisen, mit Farben und Mustern nicht. Sie haben noch Phantasie.

In der Zwischenzeit wurden die Bananen auf Lastkähnen an unser Schiff herangebracht. Die Indios und die Spanier trugen immer in Kisten gepackt zwei Stangen auf der Schulter vom Kahn in den Bauch des Schiffes. Die Fracht wird im Akkord umgeladen. Das ganze Bild wirkte wie Afrika oder Asien, einer schnell, schnell hinter dem anderen, als ob im Schiff etwas umsonst ausgeteilt werden würde. Zwischendurch wurde mit einer Konservendose aus einer dreckigen, alten Tonne von den Südamerikanern mit Eis gekühltes Wasser geschöpft und getrunken oder über sich hinabgeleert. Die Dose war mit einer Schnur an die Tonne gebunden, damit sie nicht verloren ging. Gesprochen wurde nicht viel, nur abends ging ein Pfeifen los, aber nicht melodisch, nur argumentierend. Das Pfeifen wurde intensiver, als das Schiff auf der einen Seite fertig geladen war und auf der anderen noch nicht. Die Frachtkähne sahen zum Teil märchenhaft bunt aus. Neuere waren schön weiß und blau abgesetzt und mit leuchtendem Gelb und Rot der Schiffsname geschrieben. Es spielt keine Rolle, ob der Kahn Holzaufbauten hat oder nicht, Hauptsache waren leuchtende Farben, wie bei den Lastwagen in der Stadt. Die Lastkähne waren teilweise mit Bambusmatten abgedeckt, wahrscheinlich damit die Bananen in der Sonne nicht weiter reifen. Alles in allem ein sehr malerisches Bild. Nachmittags war ich noch in der Stadt, das Wichtigste, wenn ich reise, eine Besichtigung ohne Ziel nur um Eindrücke zu sammeln.

17.3.66

Gelernt habe ich wieder nichts. Dafür aber Briefe geschrieben. Heute standen wir bis jetzt um 21 Uhr vor dem Panamakanal. Es gab wieder wenig Arbeit.

Ich habe über das Glücklichsein nachgedacht. Ich dachte an die Südamerikaner. Sie haben fast nichts und sind wahrscheinlich glücklicher als wir Deutschen. Ist so arm und glücklich sein besser oder unser Wohlstand, macht er uns unglücklich oder übersättigt? Wohlstand soll von Zeit zu Zeit einen Krieg erforderlich machen. Anderseits, die Kinder können oft nicht schreiben. Ich habe in Guayaquil erlebt, dass eine Neunzehnjährige nicht einmal ihre Adresse aufschreiben konnte, nur gerade ihren Namen. Was wird aus ihren Kindern einmal werden? Sie werden auch nicht schreiben können, und werden doch glücklich, vielleicht glücklicher als wir sein. Sie leben in den Tag, denken kaum an die Zukunft, machen kaum Pläne, heiraten und bekommen wieder Kinder und freuen sich, wenn die Sonne scheint und über jede Kleinigkeit. Ist es die Aufgabe des Westens, den Fortschritt zu machen und der Menschheit damit zu dienen. Gemessen an den Sorgen der Menschheit ist es doch wenig. Was nützt es uns, wenn wir wissen, wie der Mond auf der Rückseite aussieht? Wohl kommen dabei andere Wissensgebiete auch voran zum Beispiel die Wettervoraussage, welche für die Ernte wichtig sein kann Aber was nützt dieser große Aufwand, wenn es in einem Jahr weniger Mais in einer bestimmten Gegend gibt, dann gibt es von einem anderen Getreide in einer anderen Gegend mehr.

Ja vielleicht hat Asien eine Erklärung für mich. Was meint Hermann Hesses Siddharta? „Als Mensch leben mit Fehlern und Schwächen macht menschlich, faustisch zu leben führt auch nicht weiter“.

18.3.66

Auf See bin ich Gott näher als anders wo. Ich habe bis jetzt, solange ich auf See bin, Gott um nichts gebeten, nur ihn erkannt und Ihm gedankt. Ich glaube, das ist besser als zehn Messen lesen lassen.

20.3.66

Es heißt, Geduld soll man bei der Seefahrt erst so richtig lernen. Ohne sie wäre ich auch schon längst und öfters explodiert.

Ich will nun noch kurz berichten, was ich heute tat. Einen Sonnenbrand habe ich mir heute geholt, morgen früh um 5Uhr 10 werde ich ihn mit Essig behandeln. Heute habe ich Geometrie gelernt.

24.3.66

Ich wollte schon lange wieder schreiben, aber dann musste ich waschen, dann eine Schachrevanche machen, nach Hause schreiben und so weiter.

Wir sind schon lange wieder auf hoher See und alles geht wieder seinen normalen Trott. Zur Zeit ist es wieder richtig seemännisch an Bord. Der Kapitän hat heute sämtliche Kammern durchsucht nach seinem Bodenteppich, wo er, anstatt in seiner Kammer, einen neuen Platz gefunden hat. Er deckt jetzt ein paar Meerespflanzen zu, damit sie nicht frieren. Ein Schmierer ist heute etwa 3 Meter in der Maschine abgestürzt. Er konnte sich nicht mehr rühren. Die Kollegen meinten, er simuliere und wollten ihn mit Wasser wecken. Er hat auch eine auf die Unterlippe bekommen. Er hat geschrieen: „Ihr Schweine!“ Ja ich bin sehr vorsichtig geworden. Aber zur Zeit hat es niemand auf mich abgesehen. Am 22. hatte ich Angst, dass es mir wieder an den Kragen gehen würde, denn da war eine Geburtstagssauferei, aber ich schlief auf die 4-8 Wache und wurde nicht geweckt. Gestern machte ich Waschtag. Zu Hause ist das doch recht bequem.

Die nächste Fahrt geht wahrscheinlich von Rotterdam nach England und mit englischen Autos nach New Jersey, von dort zu den lieben Bananen nach Guayaquil. Wie es dann weiter geht, weiß ich noch nicht, aber nicht mehr all zu lange mit diesem Bananenjäger. Es kann aber noch ein halbes bis dreiviertel Jahr gehen.

26.3.66

Nun komme ich gerade vom Funker, der einzige, mit dem ich mich halbwegs unterhalten kann. Es ist eigenartig, vor dem Hafen kommt man aus der Ruhe, wenigstens merke ich das bei mir. Wie ich feststellte, werde ich da ziemlich erregt. Deshalb habe ich mir vorgenommen, viel zu essen und zu schlafen, was ich auch tue. Gestern oder vorgestern habe ich zehn Stunden geschlafen und jetzt habe ich nachts um halbelf Uhr wieder etwas gegessen. Die Seefahrt ist nervaufreibend. Das habe ich nicht nur bei mir festgestellt. Mein Zimmerkollege, der jetzt ein halbes Jahr auf diesem Schiff ist, kann aus Nervosität nicht mehr schlafen. Ein anderer, der neun oder elf Monate auf dem Dampfer ist, sitzt in seiner Kammer raucht, liest einen Schmöker und hat seinen Plattenspieler auf full Power gestellt. Die Platte läuft zum Teil vier bis fünf Mal hintereinander und die Nachbarschaft muss sich dieses Gedudel anhören, jeden Abend. Weil „Il silencio“ ununterbrochen läuft, hängt es mir jetzt zum Hals heraus, obwohl ich es im Grund sehr mag. Ein anderer sagte über ihn, dass es gut für ihn sein wird, wenn er abgelöst wird, sonst dreht er noch durch. Das sind die Schattenseiten, von denen niemand spricht, weil sie nicht in das romantische Bild der Seefahrt passen.

Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, die Seefahrt zu verlassen, aber das hieße, Aufgabe nicht gemeistert, auch wenn sie nicht so leicht ist, wie es die ersten Tage aussah. Davon könnte ich einen Komplex bekommen. Anderseits lässt mich mit der Zeit vieles auch kalt.

Auf See, den 28.3.66

Ich freue mich jetzt schon, bis wir wieder in eine wärmere Gegend kommen. Langsam wird es europäisch kalt. Das Wasser hat nur noch 14oC und die Luft ebenso. Vor Guayaquil hatten wir 28oC. Die Luft ist eigenartiger Weise fast immer gleich warm wie das Wasser. In der Wärme beim sonnen auf Deck kann ich phantastisch träumen.

Rotterdam, den 1.4.66

Es ist jetzt abends viertel nach zehn Uhr. Ich komme gerade vom Funker. Ich habe mich mit ihm darüber unterhalten, wie ich es am besten anfange, ungestört zu schreiben. Heute wird wieder Geburtstag gefeiert und ich habe bereits wieder einen kleinen Vorgeschmack erhalten. Der 3. Ing. hat seine schmierigen Hände an meinem guten Zwirn, den ich vom Landgang noch anhatte, abgestreift. Wenn sie mich finden, geht wieder einiges in die Binsen, das ist das lustige Matrosenleben. Ich habe eingekauft und war ausgegangen. Ich musste einmal zivilisiert ausgehen, damit ich wieder merkte, dass ich ein Normalmitteleuropäer bin, sonst vergammle ich ja noch.

Rotterdam, den 2.4.66

Ich bin froh, dass ich gestern mit dem Funker weg war, so konnte ich ein Bild von den Holländern bekommen. Ich fand das Übliche, sie wollen Geld von den Ausländern, egal auf welche Weise. Aus diesem Grund ging ich auch nicht tanzen, obwohl ich es ursprünglich vor hatte. Ich war mit dem Funker in einem Vereinslokal eines Sportvereins, wo es sehr gemütlich und volkstümlich war.

In Rotterdam ging ein Österreicher von unserem Schiff. Er meinte: „Lieber 2 Monate im Knast als noch einmal 14 Tage auf ein Schiff“. Er hatte beides erlebt. Ein Schweizer kam an Bord. Ich verstehe mich bis jetzt recht gut mit ihm. Vielleicht wird noch eine Freundschaft daraus. Schade, dass jetzt wo die Anfangsschwierigkeiten vorbei sind, ich vom Schiff gehe, aber meine Pläne laufen anders als dieses Schiff.

Nun fährt das Schiff mit mir wieder nach Guayaquil.

Auf See, den 14. 4.66

Vor zwei Stunden waren wir in Curaҫao. Ich konnte nur dreiviertel Stund an Land gehen und im Vorrübergehen einen kleinen  Eindruck gewinnen. Ich war Klamotten kaufen und habe im Stehen ein Bier hinuntergekippt, dann ging ich im Eilmarsch wieder auf den Bananenjäger.

Was ist das für ein Schiff? In Guayaquil werden wir auch nur einen Tag liegen. Das heißt acht Stunden an Land. Da wird es Zeit, dass ich von dem Dampfer heruntergehe. Ich will ja in erster Linie etwas sehen und erst in zweiter Linie etwas sparen. Zum Sparen ist dieser Dampfer ausgezeichnet. Aber was nützt mir Geld, wenn ich sonst nichts habe. Ich wäre gerne in Curaҫao geblieben, das ist der richtige Urlaubsort, sonnig, sauber, man versteht Deutsch, da Holländisch gesprochen wird oder Englisch. Ich habe keine Palmen gesehen, aber Kakteen wachsen dort soviel wie bei uns der Löwenzahn und wieder sah ich rotblühende Bäume. Das Feuerrot in dem dunklen Grün ist einfach herrlich.

Seit einiger Zeit ist die Mannschafts-Bar geöffnet. Ein Frachtschiff, wie unseres, darf ein paar, ich glaube bis zu zehn, Passagiere mitnehmen. Manchmal kommen Passagiere zu uns in die Bar, dann merke ich, dass es auch noch ein Zivilleben gibt und dass das Universum über den Dampfer und die unendlich scheinende See hinaus geht. Neulich hatte einer Geburtstag. Es war viel Betrieb in der Bar. Auch Passagiere waren wieder unten in der Bar. An diesem Tag habe ich einen letzten Tropfen Seemannsromantik erhascht. Ein Schwarzer spielte auf einem Poller Gitarre. In letzter Zeit mussten wir immer Überstunden machen. Da konnte ich nach der Arbeit tatsächlich sagen: „Nun ein bisschen Essen und Schlafen, damit nachher wieder gearbeitet werden kann“.

Auf See, den 15.4.66

Morgen sind wir im Panamakanal. In Guayaquil werde ich voraussichtlich mit dem Schweizer an Land gehen. Er ist ein Weltenbummler, Gauner und Schmuggler. Von meinem Kammerkollegen wird er als Dackel bezeichnet, aber der wirkliche Dackel ist eher er selbst. Er hat dringend Urlaub nötig, sonst fängt er auch noch an durchzudrehen. Ja, all zu lange bleibe ich nicht bei der Seefahrt. Es sind alles jüngere an Bord, nur der Bootsmann und der Storekeeper sind älter, die anderen sind alle in meinem Alter. Der Kapitän ist auch schon alt. Aber ich werde das auf diesem Schiff bestimmt nicht.

Über den zweiten Besuch von Guayaquil gibt es keine Aufzeichnungen. Ich erinnere mich, dass der Funker zusammen mit mir eine mehrstündige Tour mit dem Taxi zu einer Bananenplantage unternahm. Der Junge, der uns in der Plantage führte, hatte eine Machete in der Hand. Irgendwann deutete er zu mir, dass ich meine Schuhe nicht am Gürtel tragen sondern anziehen solle. Auf mein Deuten, dass er auch keine Schuhe an habe machte er mit der Hand eine schlängelnde Bewegung und sagte: “Snail“ jetzt wusste ich, dass es hier Schlangen gab.

Auf See, den 28.4.66

In letzter Zeit muss ich wieder zuturnen. Zuturnen ist ein deutschenglischer Sprach-Mischmasch und meint „zusätzlich außerhalb der Reihe“. Gemeint sind unbezahlte Zusatzleistungen.  Fast jeden zweiten Tag ist der Tag eine Stunde länger, weil wir eine Zeitgrenze überfahren. Für Muse bleibt keine Zeit und sie wird durch nichts angeregt, höchstens ich erwische ein Buch. Zeitschriften gibt es genügend. Wenn ich drei gelesen habe, finde ich sie langweilig, es ist immer wieder das Gleiche nur in variierter Farbe. Höchstens mit dem Schweizer komme ich auf ein interessantes Thema. Er hat aber blöde Ansichten, so dass es immer nur kurz bleibt. Eine eigene fundierte Meinung hat er nicht, nur eine gute Allgemeinbildung. Dann stürze ich mich auf mathematische Rechnungen bis ich müde bin und schlafen kann.

Von Ostern haben wir nichts gemerkt. Der Chief hat zwar am Karsamstag Bier spendiert und mit dem Storekeeper von der Waterkant gesabbelt. Das war auch schon alles. Ostern durfte ich wieder eine Predigt halten. Ich sagte, dass ich ihnen jetzt die Geschichte von Jonas und dem Wal erzählen wolle, weil das alle Seeleute anginge. Jetzt kam meine Retourkutsche. Ich habe die Geschichte von Jonas und dem Wal erzählt. Von dem was ich erzählte steht nur in der Bibel: Jonas, der Wal und der Wal spie Jonas an Land. Ich behauptete dass der Wal aus einer Zirkusprinzessin geboren sei, die es ähnlich wie Katharina die Große nicht mit Pferden gemacht habe, sondern sich mit einem Elefanten eingelassen habe. Das war so viel Tobak, dass der 2. Offizier verschämt auf die Seite schaute.

Nach dem Satz. “Und der Wal spie Jonas an Land“ sagte ich: „Wahrlich, wahrlich ich sage Euch, der Glaube kann Berge versetzen. Ich glaube ganz fest, dass der Kapitän uns zu Ostern 10 Kästen Bier spendiert. Sollte ich mich aber in diesem Glauben täuschen, so kann ich Euch keine Predigt mehr halten.“ Es kam kein Bier und es kam auch keine Predigt mehr. Ja anders geht das nicht.

Anfangs war es wirklich nicht immer leicht. Aber wenn ich nicht mitschwimme, gehe ich unter. Die Predigt war wirklich nicht mein Fall, aber anders hätten sie mich lächerlich gemacht. So konnte ich mich retten.

Im Übrigen trainiere ich auch meine Muskeln immer wieder. Jeder drückt sich vor dem Ölpumpen, aber ich nehme das als Muskeltraining.

Nun will ich noch etwas filzen (schlafen) und um 4 Uhr geht es wieder auf Wache.

Auf See, den 3.5.66

Heute schreibe ich wahrscheinlich das letzte Mal auf diesem Schiff. In letzter Zeit kam ich beim besten Willen nicht dazu oder war zu müde.

*

Ende der 2. Reise nach Guayaquil. Ich habe von der Perseus am 5.Mai abgemustert.